Die Methode, die in diesem Buch vorgestellt wird, versteht sich als Weiterentwicklung gängiger methodischer Ansätze. Sie ergänzt bewährte Konzepte um eine neue Aufmerksamkeit für das, was im Körper – und speziell im Mundraum – geschieht, damit ein Ton erklingen kann. Ein zentraler Baustein ist die sogenannte „Lippe-zu“-Übung.
Der Ausgangspunkt ist eine einfache Erfahrung: Man flüstert die Silbe „pü“ – hörbar, aber ohne Stimmbeteiligung. Wichtig ist hier eine lockere, offene Position des Unterkiefers, wie man sie etwas beim gewöhnlichen Pfeifen beobachten kann. (Die Qualität des "pü" ist hier entscheidend: es ist KEIN "pff". Es lässt sich am ehesten herleiten, indem man pfeift und dann das Pfeifen durch leichte Änderung der Lippenform versiegen lässt.) Dabei zeigt sich: Dieses Flüstern hat eine klar definierbare Tonhöhe, die sich variieren lässt. Das ist der erste entscheidende Punkt: Ohne Instrument, nur durch Formung von Zunge und Mundraum, lässt sich ein Ton denken, fühlen und hörbar flüstern. Man beachte, dass es nicht nötig, ja sogar hinderlich ist, bei diesem Flüstern schon die Idee des Trompetenspieles im Kopf zu haben und deswegen gar besonders kräftig zu Flüstern.
Im nächsten Schritt wird dieses „pü“ – mit exakt derselben inneren Vorstellung – durch die Trompete geflüstert. Das heißt: Das Mundstück liegt locker an den Lippen, ohne festen Ansatz, und die Luft wird in das Mundstück gehaucht. Die hörbare Tonhöhe verschwindet, doch das Gefühl für die Mundraumform bleibt. Mit etwas Übung kann man spüren, dass man dasselbe „pü“ weiterhin exakt gleich formt, nun aber im Kontext des Instruments.
Wird nun, wiederum bei gleicher innerer Vorbereitung, die Lippe allmählich, nach und nach geschlossen, entsteht – ohne dass der Spieler genau sagen könnte, wann – ein klarer Trompetenton. Häufig liegt dieser Ton exakt auf jener Tonhöhe, die zuvor geflüstert wurde. Und: Das Ansprechen gelingt meist überraschend leicht und stabil. Wir sehen also: Durch das Schließen der Lippen entsteht die zur Tonerzeugung nötige Schwingung. Meine ganz besondere Aufmerksamkeit gilt hier aber einer anderen, oft übersehenen physiologischen Notwendigkeit:
Die Zunge formt und lenkt den Luftstrom. Diese Aktivierung geschieht nicht willentlich, sondern scheint notwendig, damit der Ton überhaupt erst entstehen kann.
An dieser Stelle wird der grundlegende Unterschied zu herkömmlichen Vorstellungen von Tonbildung deutlich: Während traditionelle Ansätze häufig von einer passiven Rolle der Zunge ausgehen, zeigt die hier vorgestellte Methode, dass die Zunge aktiv an der Tonentstehung beteiligt ist, ja sein muss! Dieses feine, meist unbewusste Zusammenspiel wird durch die Übung erstmals deutlich spürbar – und kann so gezielt in die Spielkontrolle integriert werden. Die Tonbildung wird dadurch nicht mehr bloß als Reaktion auf Luftstrom und Lippenspannung verstanden, sondern als Ergebnis eines bewusst steuerbaren, inneren Vorgangs.
– nicht zuletzt, um der Zunge jene Freiheit zu geben, die sie für ihre Steuerungsarbeit benötigt. Die Lippen werden nicht aufeinandergepresst, sondern durch den Luftstrom und den resultierenden Bernoulli-Effekt1 sanft zum Schwingen gebracht. Die Zunge übernimmt dabei die Funktion, die Luft gezielt zu beschleunigen und so die Tonbildung effektiv zu unterstützen – bei gleichzeitig größtmöglicher Leichtigkeit im übrigen Spielapparat. Welche zentrale Rolle diese Lockerheit des Kiefers auch in späteren Übungen – etwa beim Spiel in der Höhe – einnimmt, wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen.
Diese scheinbar einfache Übung bildet die Grundlage für alles, was folgt: Sie eröffnet einen Zugang zur Tonbildung, bei dem nicht Kraft und Luftdruck im Vordergrund stehen, sondern Wahrnehmung und gezielte Steuerung der inneren Spielvorgänge. In den nächsten Kapiteln wird deutlich werden, wie daraus eine neue Spielidee entstehen kann – geprägt von Leichtigkeit, ökonomischem Luftgebrauch und einem sehr differenzierten Umgang mit der Zunge.
Sobald die Grundidee dieser Übung – also das innere Flüstern der Silbe „pü“ und das darauffolgende Erklingen des Tons durch das allmähliche Schließen der Lippen – verinnerlicht ist, lässt sich der Übungsansatz systematisch weiterführen.
Der Beginn erfolgt stets auf einem bequemen Ton – meist irgendwo zwischen f1 und c2. Zunächst wird ohne Instrument geflüstert. Dann wird dasselbe „pü“, mit der identischen inneren Klangvorstellung, durch die Trompete gehaucht. Schließlich wird der Ton gebildet, indem die Lippe auf natürliche Weise in Schwingung versetzt wird – unterstützt durch den bewusst gestalteten Luftstrom.
Sobald dieses Vorgehen gelingt, lässt sich die Übung gezielt und schrittweise auf höhere Töne übertragen – stets nach demselben Prinzip. Bald zeigt sich (und diese Aufmerksamkeit ist zentral): Die geflüsterte Tonhöhe wird vom Instrument immer häufiger exakt übernommen. Dabei gilt: Der Ton auf der Trompete wird nicht erzwungen. Die Abfolge bleibt unverändert: flüstern – durch die Trompete flüstern – Zunge aktivieren & Lippe schließen. Ein Ton spricht an – welcher auch immer. Die Verschränkung zwischen Flüsterton und vom Instrument angenommenem Ton stellt sich mit der Zeit von selbst ein. So wird unmittelbar erfahrbar, dass die Tonhöhe des später erklingenden Trompetentons bereits im vorangehenden Flüstervorgang ohne Instrument vorbereitet und festgelegt wird.
Mit zunehmender Erfahrung verfeinert sich auch die Wahrnehmung jener Zungenaktivierung, die im Moment des Tonansprechens notwendig ist. Wenn dieses Körpergefühl – die subtile, nach vorne-oben gerichtete Spannung im Zungenbereich – bewusst gespürt und nachgeformt werden kann, beginnt sich eine neue Möglichkeit zu erschließen: Der Tonumfang lässt sich nun noch gezielter nach oben erweitern, nicht durch Anstrengung oder mehr Luft, sondern durch eine bewusste Intensivierung eben dieser entdeckten Steuerung. Die Tonhöhe wird zunehmend durch die Zunge mitgestaltet – präzise, ökonomisch, mit verblüffender Wirkung.
Spätestens an diesem Punkt beginnt sich auch die Brücke zum nächsten Kapitel zu öffnen: Denn in der sogenannten Crescendo-Übung zeigt sich, wie diese Zungenarbeit nicht nur den Ton anspringen lässt, sondern ihn auch trägt, gestaltet – ja, sogar dynamisch wachsen lassen kann. Doch bevor wir dorthin weitergehen, lohnt es, diese Grundlagenarbeit geduldig zu vertiefen. Denn hier – im unscheinbaren „pü“ – liegt der Ausgangspunkt für eine grundlegend neue Spielidee.
Fußnote1: Der Bernoulli-Effekt beschreibt ein physikalisches Phänomen, bei dem ein strömendes Gas oder eine Flüssigkeit einen Unterdruck erzeugt, wenn es sich durch eine Engstelle bewegt. Im Trompetenspiel führt der durch die Mundhöhle beschleunigte Luftstrom dazu, dass zwischen den Lippen ein Unterdruck entsteht, der sie ansaugt und dadurch zum Schwingen bringt – ohne dass sie aktiv zusammengedrückt werden müssen. Dies erleichtert die Tonerzeugung erheblich, wenn der Luftstrom entsprechend vorbereitet ist.